Angriff aufs Schweizer Herz

Schweizer und Deutsche sprechen die gleiche Sprache, doch sie verstehen sich nicht. Wie fremd sich die beiden Länder sind, zeigt Peer Steinbrücks Indianer-Vergleich - und die aggressiven Reaktionen der Eidgenossen.

Am Tag, als der Streit zwischen der Schweiz und Peer Steinbrück seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, dass Verteidigungsminister Ueli Maurer (SVP) "aus persönlichem Protest" seine Dienstlimousine zurückgegeben habe, und statt eines schwarzen Mercedes der S-Klasse künftig einen Renault Espace fahren wolle. Das erklärte ein Sprecher zwar inzwischen mit einem "Augenzwinkern" - doch viele Deutsche verstehen nicht mehr, wieso die Schweizer so blindwütig um sich schlagen, weshalb Finanzminister Steinbrück derartige Emotionen weckt. Haben die Schweizer jedes Mass verloren?

Es ist nicht einfach zu erklären, weshalb Steinbrück in der Schweiz wegen ein paar Sätzen zur nationalen Hassfigur werden konnte. Denn es geht um mehr als die paar Sätze.

Die Sätze hatte Peer Steinbrück am 14. März in London gesagt - einen Tag, nach dem die Schweiz angekündigt hatte, ihr Bankgeheimnis bei Steuerhinterziehung zu lockern und künftig die Standards der OECD zu befolgen. Sie hatte eingelenkt, weil eine "schwarze Liste" aufgetaucht war, auf der die Schweiz als Steueroase gebrandmarkt werden sollte.

Steinbrück sagte: "Dass eine solche Liste erarbeitet werden könnte, (…) ist umgangssprachlich formuliert, die siebte Kavallerie im Fort Yuma, die man auch ausreiten lassen kann. Aber die muss man nicht unbedingt ausreiten. Die Indianer müssen nur wissen, dass es sie gibt."

Das kam in der Schweiz viel verheerender an, als Deutsche es sich vorstellen können, denn es kamen nicht nur die nackten Worte an, die Schweizer sahen darin mehr: den "hässlichen Deutschen" eben, den Deutschen als Aggressor, und deswegen erzählt die Affäre Steinbrück auch viel darüber, wie fremd sich Schweizer und Deutsche in Wahrheit sind. Und auch darüber, dass Deutsche oft nicht wissen, wie sensibel dieses Verhältnis ist.

Die Schweizer Obsession mit Steinbrück begann im vergangenen Herbst - da hatte der Finanzminister davon gesprochen, dass man die Schweiz zur Not mit der "Peitsche" zur Räson bringen müsse. Ein Deutscher, der mit der Peitsche droht: So ungefähr stellt man sich in der Schweiz den Kriegsfall vor, und schon damals entsetzten sich Politiker, Medien und das Volk, und schon damals bestellte das Aussenministerium den deutschen Botschafter ein, um zu protestieren.

Die Angst vor den aggressiven Deutschen
Für Aufruhr sorgte nicht nur, was Steinbrück gesagt hatte, sondern wie er es sagte - er hatte eine kriegerische Metapher verwendet. Und er war nicht der einzige. Ende Februar sagte SPD-Parteichef Franz Müntefering über Länder wie Liechtenstein und die Schweiz: "Zu früheren Zeiten hätte man dort Soldaten hingeschickt." Und nun, in London, drohte Steinbrück "Indianern" mit der "Kavallerie".

Seit die Schweizer im Zweiten Weltkrieg alle einsatzbereiten Männer an die Grenze schickten, um auf die Deutschen zu warten, seit sie damals die Alpen aushöhlten, Kartoffeln in allen Gärten pflanzten und ihre Tunnel mit Sprengstoff versahen, ist die Angst vor den aggressiven Deutschen nie ganz vergangen, vielleicht gerade weil sie nie kamen. Das war Steinbrück offensichtlich egal.

Das Schweizer Fernsehen führte Steinbrücks Aussagen in der "Tagesschau" in unüblicher Länge vor, ungeschnitten, man zeigte ihn einfach, wie er dasass und sprach, es war, als ob sich die Kamera nicht losreissen konnte.

Steinbrück sass vor einem bunten Vorhang, zupfte an seiner Krawatte, hielt das Haupt in die Höhe gereckt. Er sprach in einem näselnden, harten Ton, der für Schweizer wie preussisches Offiziersschnarren klang, und als er am Ende vom "Zuch" sprach, der in den Kamin komme, eine Wendung, die Schweizern so ungeheuer fremd und deutsch und brutal erscheint, da war er für die Zuschauer endgültig zum Feind geworden.

Die Selbstzufriedenheit, die er dabei ausstrahlte, war Salz in ihre Wunden. Sie hatten ihr Bankgeheimnis gerade eben unter Schmerzen aufgegeben. Und statt Anerkennung zu äussern, sass da nun einer, der arrogant triumphierte, der sie als Indianer verspottete.

Selbst wenn Steinbrück den Vergleich eher zufällig gewählt haben mag, so erschien er vielen Schweizern als herabsetzend, sie glaubten darin zu erkennen, dass der Deutsche sie eben nicht ernst nimmt, sie als indigene Bewohner eines Reservats betrachtet, nicht als souveränen Staat.

Steinbrück war bestimmt verblüfft über die extremen Reaktionen, die er erntete: Vermutlich hatte er sich über seine Sprachbilder ebenso wenig Gedanken gemacht wie über seinen Habitus. Er sprach so, wie er auch gegenüber deutschen Journalisten sprechen würde - Deutsch halt. Doch Deutsch ist nicht überall die gleiche Sprache, und die aggressive Klarheit von Steinbrücks Worten ist selbst in Deutschland umstritten. In der Schweiz hingegen, wo man immer eine Spur zu freundlich ist, um ja nicht unfreundlich zu erscheinen, wirkten Steinbrücks Worte wie ein Artillerieangriff.

Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer sagte in der "Neuen Zürcher Zeitung": "Herr Steinbrück kommt mir so vor wie ein ganz normaler deutscher Kunde, der in den Laden kommt und sagt: Ich krieg die Wurst da! Und dann kriegt er sie und bezahlt sie. Das würde ein Schweizer nie tun. Der würde sagen: Darf ich bitte möglicherweise dieses Würstlein dort haben, bitte sehr? Und an diesem Kulturunterschied im Sprechen scheitert auch das Jetzige."

Steinbrück interpretierte die Wut der Schweizer später so, als ob sie ein Resultat seines erfolgreichen Kampfs gegen Steueroasen sei. Doch nicht Steinbrück hatte das Bankgeheimnis erledigt, sondern die Briten und die Amerikaner. Steinbrück bot sich den Schweizern nur als Sündenbock an, indem er die Karikatur des "hässlichen Deutschen" mit Leben ausfüllte.

Die Schweizer Aussenministerin bestellte den deutschen Botschafter ein, um ihm mitzuteilen, wie "inakzeptabel, aggressiv und beleidigend" der Minister sich geäussert habe. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung wurden in Schweizer Medien amerikanische Indianerhäuptlinge interviewt, der Chefredakteur des "Tages-Anzeigers" schilderte zum Beweis für deutsche Arroganz seine Erfahrungen mit der Sekretärin von Steinbrücks Pressesprecher, die auf seine freundliche Anfrage hin einfach den Hörer aufgelegt habe - und die "Bild am Sonntag" stellte einen Papp-Steinbrück in der Zürcher Bahnhofstrasse auf, um die Reaktionen zu testen.

Der Nazi-Vergleich trifft die Stimmung der Stammtische
Das Possenhafte der Auseinandersetzung verdeckt, wie tief der Zorn vieler Schweizer über Steinbrück reicht. Weil sie seine Worte als so massiv empfanden, vergriffen sich manche bei ihrer Antwort auch massiv im Ton: Man konnte es an den unflätigen Briefen sehen, die an die deutsche Botschaft in Bern und auch an den SPIEGEL geschickt wurden, und auch wenn der christdemokratische Abgeordnete Thomas Müller wegen seines Nazi-Vergleichs vom Präsidenten seiner Partei sofort gerügt wurde, so traf er doch die Stimmung an vielen Stammtischen.

Und so ist die Affäre um Steinbrück auch eine Geschichte über Schweizer Empfindlichkeit und deutsche Empfindungslosigkeit, und es ist eine Geschichte über ein Verhältnis, von dessen Schwierigkeiten viele Deutsche gar nichts wissen.

Das Problem ist, dass sich Deutsche und Schweizer in Wahrheit so gut wie gar nicht kennen, sich aber zu kennen glauben. Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern ist auf beiden Seiten stark geprägt von Klischees, so sehr wie kaum irgendwo in Europa zwischen zwei Nachbarstaaten.

Die Schweizer leiden darunter, von den Deutschen nicht ernst genommen zu werden, sie wissen, dass die Deutschen, mehr noch die Norddeutschen, sie als putziges Bergvolk mit einer lustigen Sprache sehen, als heiles Urlaubsland, nicht als die multikulturelle, globalisierte Ökonomie, die sie sind; und sie wissen eher selten, dass es in Deutschland neben diesem positiven, idyllisierten, falschen Bild ihres Landes noch ein zweites, negatives, ebenso falsches gibt, vor allem bei der Linken verbreitet: die Schweiz, ein spiessiger Hort unrechtmässig erworbenen Reichtums.

Ein Kommentar zu der Angelegenheit in der "Bild-Zeitung" steht stellvertretend für den deutschen Blick: "Schade um dieses schöne Land und seine sympathischen Bewohner. Heidi, die bekannteste aller Schweizerinnen, hätte auf ihrer Alm hoch droben in den Bergen über all das nur fröhlich gelacht", schrieb der Autor. Es ging offensichtlich nicht um die reale Schweiz, sondern um ein Phantasieland. Doch viele Deutsche denken genau daran, wenn sie an die "Eidgenossen" denken - ähnlich, wie wenn den Amerikanern beim Gedanken an "Germany" Dirndl, Bratwurst und Volkswagen einfallen.

Die Deutschschweizer kennen Deutschland aus dem Fernsehen, sie empfangen ja alle Programme, und sie kennen es eben doch nicht, weil sie kaum je dorthin fahren. Deutsche nicht zu mögen ist Teil ihrer Folklore. Deutsche sind die ungeliebten Verwandten, zu denen man zwar eine gewisse Ähnlichkeit erkennt und gerade deswegen die Unterschiede betont.

Die Deutschen nehmen die Schweizer kaum wahr
Die Deutschen nehmen die Schweizer dagegen meist gar nicht wahr - deutsche Medien berichten selten über mehr als über Berge, Blocher und Bankgeheimnis, und Deutsche, die in die Schweiz ziehen, sind oft überrascht, dass das, was sie für Schweizerdeutsch hielten, Schweizer Hochdeutsch ist, während das echte Schweizerdeutsch für sie unverständlich bleibt.

Das komplizierte Verhältnis zwischen Schweizern und Deutschen ist in den vergangenen Jahren noch komplizierter geworden - angesichts von 3000 Einwanderern pro Monat aus Dresden, Lübeck und Fulda, erscheint Deutschland den Schweizern als wirtschaftlicher Problemfall. Zusammen mit den immer neuen Angriffen auf das Bankgeheimnis scheint es ihnen nun manchmal, als hätten es die Deutschen auf ihren Reichtum abgesehen.

Deutsche Politiker äussern sich traditionell kaum je zur Schweiz. Sie kommen auch kaum noch zu Besuch, anders als zu Zeiten Helmut Kohls, der ein grosser Schweiz-Freund war. Angela Merkel kommt nur, um das Engadin mit ihren Langlaufskiern zu durchqueren.

Steinbrück war der erste deutsche Politiker seit langer Zeit, der überhaupt wieder etwas zur Schweiz zu sagen hatte - nur eben nichts Positives. Sein Schweizbild gleicht nicht der idealisierten Postkarte, von der die deutschen Nachkriegskinder so gerne träumten, sondern eher dem sozialdemokratischen Zerrbild von den Nazigoldverwaltern, die ihren Wohlstand auf Kosten des deutschen Staates errichtet haben: ein ebenso simples Klischee und für das Image der Schweiz weit gefährlicher.

"Die Deutschen nehmen nach 50 Jahren die Schweizer erstmals überhaupt wahr, und sehen sie nicht mehr als liebe Zwerge, bei denen man Ferien machen kann."


Peer Steinbrück sieht sie offenbar als räuberische Coyoten, denen man die Beute mit der Winchester abjagen muss.