Wenn die Schweiz schrumpft!

Die Wirtschaft ist von 2004 bis 2008 total 14 Prozent gewachsen.
Nun wird sie laut Prognosen um 2 bis 3 Prozent schrumpfen. Man nennt das «Rezession.
Wie schlimm ist das? Eine Vorschau auf die Folgen.

Auch die Schweiz ist von dieser Welt. Der laufende Wirtschaftsabschwung hat diese unbequeme Wahrheit wieder einmal offenkundig gemacht: Wenn die Weltwirtschaft hustet, holt sich auch die kleine Schweizer Volkswirtschaft eine Erkältung. Der Ausblick für die Welt und die Schweiz hat sich in den letzten Monaten stetig verdüstert. Laut den jüngsten Prognosen wird die Schweizer Wirtschaft heuer um 2 bis 3 Prozent schrumpfen.

Ein Minus von 2 bis 3 Prozent mag auf den ersten Blick nicht allzu schlimm erscheinen. Vor allem wenn man sieht, dass die Schweizer Wirtschaft von 2004 bis 2008 teuerungsbereinigt um total rund 14Prozent gewachsen ist. 2009 brächte nach dieser Lesart nur eine kleine Korrektur. Doch der Abschwung fühlt sich weit drastischer an. Dieses Gefühl ist vor allem bestimmt durch zwei Differenzen. Da ist zuerst die Differenz zwischen den Wachstumsraten der Vorjahre (real 2 bis 3Prozent im Schnitt) und dem jetzigen Kurs. Diese Differenz von etwa 5 Prozentpunkten illustriert die Fallhöhe – bzw. die Stärke, mit der die Wirtschaft auf die Bremse drücken muss.
Ähnlich gross ist die zweite Differenz – jene zwischen der Realität von 2009 und der Wachstumsrate, die bei voller Auslastung der Kapazitäten möglich wäre. Die Wirtschaft hat im Prinzip auch heuer wie in den letzten 200 Jahren so etwas wie ein natürliches Wachstumspotenzial – weil die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung immer noch steigt (mehr Arbeiter können mehr produzieren und konsumieren), und weil die Menschen in der Regel dazulernen (neue Erfindungen und die Verbesserung von Arbeitsabläufen können die Produktivität steigern). Auch Investitionen der Firmen in Maschinen tragen zur Produktivitätssteigerung bei. Bei einem Wachstumspotenzial von derzeit vielleicht 2 Prozent pro Jahr schneidet die Schweizer Wirtschaft heuer gemessen an den jüngsten Prognosen etwa 4 bis 5Prozentpunkte schlechter ab, als sie es bei Vollauslastung tun könnte.

Grosse Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
Wie schlimm ist das? Die schlimmsten Ergebnisse zeigen sich am Arbeitsmarkt. Die Zahl der Stellen in einer Volkswirtschaft ist in der Regel relativ eng an die Entwicklung der Wirtschaftsleistung gebunden – wenn auch oft mit einigen Quartalen Verzögerung, weil manche Firmen zuerst noch Überstunden abbauen, auf Besserung hoffen und am Ende noch die Kündigungsfrist abwarten müssen, bevor sie Stellen abbauen.
Einen Vergleichswert liefert der bisher grösste Wirtschaftstaucher der Nachkriegszeit. 1975 schrumpfte das Schweizer Bruttoinlandprodukt (BIP) teuerungsbereinigt um rund 7 Prozent und 1976 nochmals um 1 Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen fiel in jenen zwei Jahren total um 8 Prozent – um etwa 250000. Ende 2008 zählte die Schweiz rund 4Millionen Arbeitsplätze. Nimmt man nun an, dass die Wirtschaft heuer um 2 bis 3 Prozent schrumpft und nächstes Jahr etwa stagniert, könnte dies laut einer groben Schätzung bis Ende 2010 etwa 200000 Arbeitsplätze kosten.

Arbeitslosenquote bis 6 Prozent
Das heisst nicht, dass die Zahl der registrierten Arbeitslosen (Ende 2008: knapp 120000) um 200000 steigen wird. Denn manche Stellenlose mögen auf eine aktive Arbeitssuche verzichten – zum Beispiel, weil sie sich weiterbilden, sich frühpensionieren lassen, sich entmutigt in den Haushalt zurückziehen oder als Eingewanderte zurück in ihre Heimat gehen. Statistische Untersuchungen aus dem In- und Ausland deuten darauf, das ein Rückgang des BIP-Wachstums um einen Prozentpunkt die Arbeitslosenquote um 0,25 bis 0,5 Prozentpunkte steigert. Nimmt man nun an, dass die Schweizer Wirtschaft 2009 und 2010 total 4 Prozent wachsen könnte, aber 2 bis 3 Prozent schrumpfen wird, dann könnte die offizielle Arbeitslosenquote (3,0 Prozent per Ende 2008) bis Ende 2010 auf 4,5 bis 6 Prozent steigen – was 180000 bis 240000 gemeldeten Arbeitslosen entspräche. Zuzüglich der nicht gemeldeten Arbeitslosen (zum Beispiel der Ausgesteuerten) könnte die effektive Arbeitslosenquote dann auch 8 Prozent oder mehr ausmachen. Doch solche Schätzungen sind wacklig. So ist zum Beispiel die Wirkung der Personenfreizügigkeit Schweiz-EU (wie viele Ausländer werden in ihr Heimatland zurückkehren?) ebenso unklar wie das Verhalten der Arbeitgebern in diesem aussergewöhnlich starken Abschwung.

Klar ist: Die entlassenen Arbeitnehmer bilden eine der beiden Hauptgruppen, welche die Zeche dieses Abschwungs bezahlen. Die zweite Hauptgruppe sind die Firmeneigentümer: Erfahrungsgemäss brechen die Unternehmensgewinne in der Rezession ein – als Spiegelbild der Gewinnexplosionen in Boomjahren. Nach dem Boomjahr 2000 zum Beispiel sank das Total der Firmengewinne in der Volkswirtschaft bis 2002 um über 15 Prozent. Dieses Mal könnte der Einbruch noch deutlich stärker sein. Kaum zu vermeiden ist auch eine starke Zunahme der Firmenpleiten.

Relativ gut kommen dagegen die Lohnempfänger weg. Die Boni sollten zwar stark sinken (wenn sie den Namen «Bonus» verdienen), aber die Grundlöhne dürften heuer gemäss bekannten Verhandlungsabschlüssen und Umfragen im Schnitt nominal über 2 Prozent höher liegen als 2008 (was bei erwarteter Nullteuerung real einem gleich grossen Plus entspricht). Dies ist das Spiegelbild der Tatsache, dass die Grundlöhne in den Boomjahren nur relativ wenig gestiegen sind. 2010 dürfte der Lohnanstieg aber deutlich geringer sein als 2009.
Lohnsenkung ist keine Lösung
Die auf den ersten Blick eleganteste und am wenigsten schmerzhafte Antwort auf die Rezession wäre dies: Alle schlucken eine Lohnsenkung von einigen wenigen Prozenten, und dafür wird keiner entlassen. In der Praxis funktioniert dies aber nicht – vor allem aus zwei Gründen: (1) Wenn die Volkswirtschaft um 2 Prozent schrumpft, heisst dies, dass die Erträge in gewissen Branchen und Betrieben um 10 oder 30 Prozent tauchen, andere Sektoren aber noch weiterwachsen – und die überzähligen Arbeitskräfte in den schrumpfenden Betrieben oft nicht sofort in die Stellenprofile der Wachstumsbetriebe passen. (2) Arbeitgeber und Gewerkschaften haben lieber Entlassungen als generelle Lohnsenkungen – weil letztere alle Angestellten verärgern und nicht «nur» die Entlassenen.

Auch Ende 2010 werden wahrscheinlich über 90 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung eine Stelle haben. Manche von ihnen werden sich aber nicht sicher führen: Wer selber Arbeitslose kennt und ständig Schlagzeilen über Rezession und Stellenabbau über sich ergehen lassen muss, macht sich fast zwangsläufig Gedanken über die (Un-)Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes.
Ein weiteres Konjunkturprogramm
Eine schrumpfende Wirtschaft heisst auch schrumpfende Steuereinnahmen und steigende Defizite für den Staat. Laut grober Schätzung erlauben die Regeln der Schuldenbremse des Bundes für das laufende Jahr ein Defizit von gegen 1,5 Milliarden Franken (bei einem BIP-Minus von 2 Prozent) bzw. von gut 2 Milliarden Franken (bei einem BIP-Minus von 3 Prozent). Ein Defizit in der Grössenordnung des Maximums gemäss Schuldenbremse wäre ohne weitere Ausgabenbeschlüsse für heuer etwa zu erwarten. Angesichts der düsteren Aussichten ist ein weiteres Konjunkturprogramm jedoch wahrscheinlich. Allerdings dürfte der Grossteil von dessen Ausgaben erst 2010 anfallen. Zu den Staatsdefiziten gesellen sich die roten Zahlen der Arbeitslosenversicherung – wohl mehr als 6 Milliarden Franken für 2009 bis 2011.

Die Bilanz ist wenig erbaulich: Die Rezession wird einigen Prozenten der erwerbsfähigen Bevölkerung sehr weh tun (den Entlassenen, die nicht rasch wieder eine Stelle finden), einen grösseren Teil der Bevölkerung verunsichern, vielen Aktionären aufs Portemonnaie drücken, in der Lohntüte der grossen Mehrheit der Angestellten eher wenig Spuren hinterlassen, aber den kommenden Generationen von Steuerzahlern (höhere Staatsschulden) und Rentnern (Kapitalverluste der Pensionskassen) erhebliche Zusatzhypotheken aufladen.

Offen muss die wichtigste Frage bleiben: Wie lange wird die Krise noch dauern? Gewiss ist: Sie wird vorübergehen. Doch sie daure mindestens bis 2010, vermuten viele. Sie könne noch länger dauern, befürchten einige. Das sind aber kaum mehr als Bauchgefühle auf der Basis aktueller Ängste, der Stärke des vorangegangenen Booms und einiger Anleihen aus der Geschichte. Für die Schweiz lässt sich nur dies einigermassen zuverlässig sagen: Die Antwort liegt im Ausland. Denn ohne Erholung der Weltwirtschaft und der internationalen Finanzmärkte wird auch die Schweiz nicht aus dem Tal der Tränen herauskommen.